Begrüssungswort Ringvorlesung «Hundert Jahre Republik Türkei»

Der Vertrag von Lausanne – unterzeichnet vor 100 Jahren – hat Grenzen neu gezogen und Länder definiert, aber er hat dabei auch einige Fragen offengelassen, Familien entzweit und Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Das Ziel – den Nahen Osten zu befrieden – hat er nicht erreicht.

Edibe Gölgeli

Edibe Gölgeli

Heute habe ich die Ehre, Sie, als eine Basler Politikerin mit kurdisch-türkischen Wurzeln zu den Ringvorlesungen des Seminars für Nahoststudien an der Universität Basel willkommen zu heissen. Ein ungewöhnliches und auch nicht ganz einfaches Thema steht auf dem Programm.

Auch nach 100 Jahren der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne gibt es immer noch politische Kontroversen und Verschwörungsmythen darüber. Ich frage mich, welche Auswirkungen dieser Vertrag auf mein persönliches Leben, meine Stadt Basel und die Schweiz hatte - und werde ihnen heute in meiner Eröffnungsrede nur einen Teil der Prägungen übermitteln können aus dem Kontext einer Schweizerin mit kurdisch- türkischen Wurzeln.

Vor genau 100 Jahren wurde die Schweiz zum Schauplatz internationaler Verhandlungen. In Lausanne trafen sich Frankreich, Grossbritannien und osteuropäische Staaten sowie Vertreter:innen der Türkei, um einen Friedensplan für den Nahen Osten auszuhandeln. Am 24. Juli 1923 wurde schliesslich ein Vertrag unterzeichnet, der bis heute von grosser Bedeutung ist. Der sogenannte Vertrag von Lausanne legte die Grenzen in dem Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reichs neu fest und bildete damit das Fundament für das moderne Türkei-Staatsgebiet. Die Grenzen im Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches wurden definitiv festgelegt, also jene der Türkei, Griechenlands, Syriens und des Iraks. Er ebnete den Weg zu Abschaffung von Sultanat und Kalifat. Gleichzeitig wurden jedoch auch die Hoffnungen anderer Völker auf einen eigenen Staat begraben, insbesondere die Kurdinnen und Kurden – sie gelten weltweit als grösstes Volk ohne eigenes Territorium. Die Auswirkungen dieses historischen Abkommens sind also bis heute spürbar: Im Nahen Osten herrscht immer noch keine dauerhafte Friedlichkeit, während Kurdistan nur im Norden des Iraks eine gewisse Autonomie geniesst und Armenien bei der Neuverteilung leer ausging - ein deutlicher Beweis dafür, dass es zwei grosse Verlierer gab. Die Unterzeichnung dieses Vertrags brachte nicht nur Frieden, sondern auch Vertreibungen und Zwangsdeportationen mit sich, wodurch Millionen von Menschen ihre Heimat verloren. Die ehemaligen kurdischen Gebiete im Osmanischen Reich wurden auf vier Länder aufgeteilt, nämlich Türkei, Syrien, Iran und Irak. Dieses historische Ereignis hat eine grosse Bedeutung für alle Menschen, deren Ursprung in diesen Regionen liegt. Auch für mich.

 

Heute, 100 Jahre später, sind wir Zeugen grösserer Spaltungen zwischen den betroffenen Ländern anstelle von Frieden. Der Vertrag von Lausanne hat insgesamt mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht - auch religiös betrachtet wie bei den Alevit:innen. «Getauscht» wurden Griechinnen und Griechen aus Anatolien mit Türkinnen und Türken aus Griechenland, und zwar aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit.

 

Das Schicksal der Kurdinnen und Kurden ist besonders tragisch geblieben.

Wie schon erwähnt stellen Kurdinnen und Kurden weltweit die grösste Bevölkerungsgruppe ohne eigenen Staat dar. In den genannten Ländern werden sie oft als Minderheit behandelt, unterdrückt, vertrieben oder politisch verfolgt.

Obwohl der Lausanner Vertrag in den Artikeln 37-45 Bestimmungen zum Schutz von Minderheiten festlegt und ihre politischen Rechte garantiert, werden diese bis heute nicht respektiert. Daher ist es kein Wunder, dass Kurd:innen weltweit nach Schutz suchen. In Basel-Stadt gibt es eine grosse Anzahl von Kurd:innen, die aufgrund der genannten Gründe fliehen mussten. Menschen, die hier in Basel aufgewachsen und sozialisiert wurden, sind sich bewusst, wie engagiert sich die kurdische Gemeinschaft für Menschenrechte und Frieden einsetzt. Viele der hier lebenden Kurd:innen sind politische Menschen. Sie schätzen die demokratischen Strukturen der Schweiz, den Schutz und das Zusammenleben der Minderheiten, auch mit der Sprachenvielfalt, sowie das föderale System.

Was aber auch zu beobachten ist, also auch nach 100 Jahren, ist eine momentane Zunahme von Asylanträgen in der Schweiz, die von Menschen aus der Türkei gestellt werden. Darunter sind auch viele Kurd:innen. Es ist ebenfalls zu beobachten, dass Tausende Kurd:innen nach Frankreich und England geflohen sind. Dieser Umstand erscheint paradox, da diese beiden Länder als Vertragspartner von 1923 mitverantwortlich für die Situation im Nahen Osten sind.

Für mich persönlich bedeutet die Verjährung des Lausanner Vertrages, dass die Schweiz als neutrales Land eine vermittelnde Rolle einnimmt und Verantwortung übernimmt. Es ist wichtig, dass der Minderheitenschutz gewährleistet wird und glaubwürdige Vertreter:innen der kurdischen Bevölkerung an wichtigen Verhandlungen beteiligt sind. Die Entscheidungen sollten nicht über die Köpfe der Kurd:innen hinweg getroffen werden, sondern gemeinsam nach Lösungen gesucht werden. Denn fest steht: Ohne dass die kurdische Frage gelöst wird, gibt es im Nahen Osten keinen Frieden.

Der Vertrag von Lausanne – unterzeichnet vor 100 Jahren – hat Grenzen neu gezogen und Länder definiert, aber er hat dabei auch einige Fragen offengelassen, Familien entzweit und Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Das Ziel – den Nahen Osten zu befrieden – hat er nicht erreicht.

Nun geschätzte Anwesende ich möchte sie nicht länger aufhalten und bin, wie SIE über den Vortrag von Herr Alexander Balistreri der einen Überblick über die Periodisierung der Geschichte schafft, gespannt.

Ich wünsche Ihnen lehrreiche und angeregte Tage während der Ringvorlesungen und bedanke mich herzlichst für ihre Aufmerksamkeit.

 

September 2023, Edibe Gölgeli

Weitere Neuigkeiten von Edibe Gölgeli